Aus der Schreibwerkstatt von Gisela Widmer
Es erschliesst sich einem leicht, das Werk, das Meinrad Inglin «Opus IV» nannte und für das er im Jahr 1928 – als Inglin 35 Jahre alt war – nach etlichen Absagen einen Verleger fand: Zwei Söhne derselben Familie sind die Hauptvertreter zweier verschiedener Weltanschauungen. Eugen Sigwart ist der fortschrittsgläubige Visionär, der nach dem Tod von Vater Sigwart ein Grand Hotel errichten will. Sein Bruder Peter ist ein Ideologe, der sich sträubt gegen Eugens Vision und die Natur bewahren möchte.
Genauso wie das Sanatorium in Thomas Manns Roman «Der Zauberberg» steht das «Grand Hotel Excelsior» da als Symbolträger. Es ist eine unbeseelte Hülle, in dem Scheinhaftigkeit, Genusssucht und Materialismus dominieren. Die Gäste «gieren» nach immer neuen Reizen. Und wer dem Tod nahe ist, soll das Haus bitte rechtzeitig verlassen.
Doch nicht nur Gäste tummeln sich in diesem Haus, sondern auch Heerscharen von Angestellten. Von Meinrad Inglin werden sie sympathischer eingeführt als die Gäste. Letztlich aber, wenn sie losgelassen, gehorchen auch sie dem Egoismus, der Niedertracht und erliegen den Verführungen von Scheinwelten. Dies zeigt sich wunderbar am Fest der Angestellten, das sie einmal pro Jahr feiern dürfen.
Wunderbar ist überhaupt das Wort, das mir immer wieder durch den Kopf ging beim Lesen des Romans. Wie Inglin den Schriftsteller Jean Jouanique in seiner Eitelkeit schildert! Herr und Frau Hahn in ihrem Eigennutz! Und allein schon die Namen: Würmli, Madame la Comtesse de Carigliano, Stoffel, Wiesel, Hotz. Nomen est omen, bei Inglin.
Und dann das Finale! Ein Hotelbrand von apokalyptischer Dimension – doch für die Gäste ist dieser Brand nur ein zusätzlicher spektakulärer Sinnenkitzel. Zumindest vorderhand. Und die Angestellten sehen darin – ebenso vorderhand – eine Möglichkeit, endlich einmal den Gehorsam zu verweigern. Bis dann die Hülle, die diesen Menschenzoo beherbergte, mit grandiosem Getöse zusammenkracht.
So vieles also ist «wunderbar» an diesem Werk, das sich «einem leicht erschliesst». Doch nur bei der erstmaligen Lektüre. Je öfter ich «Grand Hotel Excelsior» las, desto augenfälliger wurden die vielen formalen Mängel und die romantechnischen Brüche in diesem «Opus IV». So etwa gibt es etliche Handlungsstränge, die aus dem nebulösen Nichts auftauchen und sich wenige Seiten später im ebenso nebulösen Nichts verlieren. Es werden X Figuren eingeführt, die wichtig erscheinen. Aber auch sie verpuffen. Und immer wieder wechselt die Erzählperspektive.
Und erst die inhaltliche Schlusswendung! Dass Eugen Sigwart, der Visionär, in weiser Voraussicht das Hotel hat versichern lassen und nun erst recht ein «Grand Hotel» erbauen kann; diese Wendung entlässt den Leser, die Leserin nach all der Wucht, mit der der Roman geschrieben ist, in eine geradezu befremdliche Leere.
Sind es diese Mängel oder sind es die – bis knapp zum Schluss – revolutionären Töne, warum Meinrad Inglin sich im Testament von diesem Roman distanzierte? Schon 1947 schrieb er in sein Tagebuch: «Ich habe mit steigender Enttäuschung meinen Roman «Grand Hotel Excelsior» wieder gelesen. (…) Ich habe mich damit verstiegen.» Einige Male versuchte Inglin, den Roman zu überarbeiten. Ohne Erfolg.
Annette Windlins und meine Aufgabe war es nun, das enorme Figuren- und Handlungsgestrüpp zu entwirren; das Werk von unnötigen Handlungssträngen und unmotiviert auf- und abtretenden Personen zu säubern, Inhalt und Aussage schlüssig zu machen. Und das Ganze hinzuführen zu jenem tragischen Ende, das die einzige logische Konsequenz ist, wenn man die Geschichte zu Ende denkt: Am Schluss haben sowohl Eugen wie auch Peter das verloren, was ihnen wirklich am Herzen lag.
Bei uns also ist das Ende radikal – und nicht versichert … Sowohl der Visionär wie auch der Ideologe stehen als Verlierer da. Beide hatten in ihren Entwürfen die Menschen vergessen; nicht wahrhaben wollen, dass nur nachhaltig funktionieren kann, was von innen her, von der Gemeinschaft her entsteht und wächst. Es braucht für ein gemeinsames Werk einen gemeinsamen Willen von allen Beteiligten. Doch Peter wusste nicht, wozu die schöne Landschaft für die Menschen gut sein soll. (Er führt den Bauern vor wie eine Marionette). Und Eugen hatte keine Absicht, in seiner Hülle eine Gemeinschaft entstehen zu lassen. Es reichte ihm, wenn die Leute kamen, sich vergnügten und wieder gingen. Beide Brüder wollten den Menschen ein Konzept überstülpen. Beide hingen reinen Kopfgeburten nach.
Ich habe viele Monate gebraucht, um das «Grand Hotel Excelsior» zu dramatisieren; die Figuren und die Handlungsstränge herauszuschälen und die Dialoge in eine rhythmisierte Sprache zu giessen. Dass ich mir die Zeit für diese anstrengende und letztlich so bereichernde Arbeit nehmen durfte, dafür möchte ich der Theaterproduktion Brunnen – allen voran Heidy Weber-Wiget und Annette Windlin – von Herzen danken.
Gisela Widmer lebt und arbeitet als freie Autorin und Dozentin in Luzern